Schelling und die Philosophie der Romantik

Schelling und die Philosophie der Romantik
Schelling und die Philosophie der Romantik
 
Die Wurzeln der romantischen Philosophie liegen im deutschen Idealismus, namentlich bei Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Gab es bei Kant einen durchgängigen Dualismus - Vernunft gegen Verstand, Sinnlichkeit gegen Vernunft, praktische gegen theoretische Vernunft, Pflicht gegen Neigung, »Ding an sich« gegen die phänomenale Welt und so weiter -, so versuchte Fichte im Rahmen seiner »Wissenschaftslehre« eine Aufhebung dieser Gegensätze. Das Vermögen der »produktiven Einbildungskraft« sollte alle diese Gegensätze von einem verständigen Grund her durchsichtig machen.
 
Der Preis dafür war eine Überhöhung der menschlichen Subjektivität. Nur wenn das empirische Ich mit dem unendlichen Ich schon identisch ist, können Subjekt und Objekt, Sein und Sollen, Wesen und Erscheinung in ihrer Entstehung verstanden werden. Verkürzt könnte man Fichtes Position so charakterisieren: Die menschliche Subjektivität kann sich im Akt des Philosophierens von den Schranken ihrer Endlichkeit befreien und erblickt so die Grundkonstitution der Welt als einen dialektischen, unabschließbaren Prozess des Werdens, der das Bauprinzip aller Realität in sich enthält. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Übergang von einer traditionellen Philosophie des »Seins« zu einer dynamischen des »Werdens«, die das geschichtliche Denken des 19. und 20. Jahrhunderts vorwegnahm. Ist das Reale nicht nur seiner Form, sondern auch seinem Inhalt nach durch die transzendentale Subjektivität konstitutiert, dann begegnet dem Philosophen in der Welt nichts schlechthin Fremdes, sondern die Welt ist ein Ausdruck seiner eigenen Geistesstruktur. Diese wurde von Fichte primär als Sittlichkeit bestimmt. Der geistige Akt ist sittlicher Akt, und dementsprechend wurde seine Position auch als »ethischer Idealismus« bezeichnet.
 
Der junge Schelling, der die Fichtesche Position beerbte, ging in zweierlei Hinsicht über seinen Lehrer hinaus: Einmal war in seinen Augen der ethische Idealismus zu eng, um die Natur in ihrer Eigenwirklichkeit angemessen zu verstehen, zum anderen vernachlässigte Fichte nach Schellings Auffassung die konstitutive Bedeutung des Ästhetischen für die philosophische Reflexion. Beide Themen hatte bereits Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft« in enge Beziehung gesetzt, was Goethe sehr für ihn einnahm, war der große Dichter doch zutiefst von der inneren Verwandtschaft von Natur und Kunst überzeugt. Was Goethe an Kant missfiel, war dessen ontologische Abstinenz. Für Kant hatte allein die (Newtonsche) Physik gegenstandskonstitutive Bedeutung, während das Ästhetische und Organische in seinen Augen nur subjektive Gesichtspunkte lieferte. An dieser Stelle ging Schelling über Kant hinaus, indem er im Rahmen einer »Identitätsphilosophie« versuchte, den engen Kokon des bloß Subjektiven zu durchbrechen. Sowohl das Schöne als auch das Organische bestimmten nach Schelling etwas Reales (und zugleich Ideales) am Gegenstand, sodass sich Schelling mit einem gewissen Recht als der »philosophische Goethe« fühlen konnte. Wie dieser betrachtete er die Natur als einen großen, beseelten Organismus, dessen Einheit sich eher in Analogien und Metaphern als in mathematischen Gesetzen ausdrücke. Die Strukturverwandtschaft zwischen Kunst und Natur führte weiter dazu, die Einheit von Intuition und Intellekt, Unbewusstem und Bewusstem auf die Natur rückzuübertragen, was zu einer Aufwertung des einfühlenden Naturzugangs führte. »Animalischer Magnetismus«, »tierische Elektrizität«, Hochschätzung von Somnambulismus, Wünschelrutengang und so weiter waren die Folge.
 
All diese Konzepte übernahmen die Romantiker. Sie akzeptierten die Erweiterung der menschlichen Subjektivität zum »absoluten Ich«. Das Romantische ist, wie der dänische Naturphilosoph Henrik Steffens in einem Brief an Caroline Schlegel schrieb, »nichts anderes als ein Sehnen nach dem Unendlichen«. Dieses Sehnen drückte sich, namentlich bei Novalis oft in christlichen Metaphern aus, die aber hier eher das Vehikel eines ganz anderen Gehaltes waren, denn sowohl Novalis wie auch Friedrich Schlegel und Hölderlin setzten das Unendliche nicht außerhalb des Endlichen. Die romantische Sehnsucht verdankte sich einer substanziellen Identität von Subjektivität und Objektivität, Natur und Geist, nicht einer christlichen Idee von der Jenseitigkeit Gottes.
 
Mag diese Subjekt-Objekt-Identität nichts Neues gegenüber den Konzeptionen von Fichte und Schelling sein, so doch die Art, wie sie die Romantiker begriffen und wie sie sie artikulierten. Für alle Romantiker war nämlich das Ästhetische das Grunddatum, auf dem alles Denken und Empfinden fußte, und zwar in einem über Schelling hinausgehenden Sinn. Bei Schelling war das Ästhetische »Organon der Philosophie«, also ihr Werkzeug, bei den Romantikern war es ihr eigentlicher Inhalt. Oder wie Hölderlin sagte: »Die volle Harmonie des Schönen besitzt nur die Dichtung. Die Philosophie entspringt erst aus der Dichtung und wird dann auch wieder Dichtung.« Die Verschiebung gegenüber Fichte rührte daher, dass dessen »produktive Einbildungskraft«, die ja weltschöpferisch ist, hier mit der künstlerischen Fantasie in eins gesetzt wird. Von diesem Standpunkt aus erschien Novalis die ganze Welt wie ein einziges großes Gedicht: »Die Natur ist eine versteinerte Zauberstadt, deren Messias der Mensch ist«. Dem Romantiker ging es darum, diesen Zauber zu dechiffrieren. Dies konnte nicht mit den Mitteln der Mathematik gelingen, die schon bei Schelling am Rande stand, sondern mithilfe von Metaphern, Analogien, gewagten Intuitionen. Die Natur war dem Romantiker wie ein Schlafwandler, dem er sich schlafwandlerisch anverwandelte. Man kann nicht sagen, dass dieser Zugang nur zu Fantasieprodukten geführt habe, denn immerhin hat zum Beispiel Johann Wilhelm Ritter das ultraviolette Licht und Hans Christian Ørsted den Elektromagnetismus entdeckt, und noch in Faradays mathematikfreien Überlegungen zum Elektromagnetismus wirkte der romantische Geist nach.
 
Allerdings deutet sich hierin auch die Grenze des romantischen Geistes an. Wenn Ritter seine Antrittsrede vor der Münchner Akademie der Wissenschaften mit dem programmatischen Titel »Physik als Kunst« versah, so drückte sich hierin auch die Verachtung des Schulmäßigen, Rationalen, Diesseitigen aus. Diese Grenze wird auch deutlich bei der romantischen Ersetzung der strengen »produktiven Einbildungskraft« Fichtes durch die Fantasie und Willkür des genialischen Subjekts. Der Künstler war jetzt der »wahre Mensch«, während das Sittliche, jedenfalls bei Friedrich Schlegel, zu einer spießbürgerlichen Angelegenheit herabsank, die er in seinem Roman »Lucinde« verspottete.
 
Hier liegt einer der Ursprünge des »Épater le bourgeois« (= den Bürger verblüffen), des Spottes, den Künstler bis heute über den an Moral und Recht gebundenen Bürger vergießen. Zugleich entwickelte die Romantik die Urform jenes Gegensatzes, der in der Lebensphilosophie des 20. Jahrhunderts im »Geist« als einem »Widersacher der Seele« (Ludwig Klages) gesehen wurde. Von hier ließen sich weitere Linien bis hin zum Surrealismus ziehen. In ihren besten Produkten, wie in Novalis' »Heinrich von Ofterdingen« oder in seiner Fragment gebliebenen Philosophie, brachte die Romantik eine suggestive Einheit von Natur und Geist hervor, die in einer schwebenden Metaphorik zum Ausdruck kam.
 
Andererseits hat man nicht zu Unrecht bemerkt, dass eine solche jederzeit trunkene Ekstase des Unmittelbaren, All-Einen, dezidiert Unbürgerlichen auf die Dauer nicht lebbar sein konnte. Goethe hat sich daher vom Romantischen als dem »Kranken« ab- und dem Klassischen als dem »Gesunden« zugewandt. Novalis und Ritter starben früh, Hölderlin verlor den Verstand, Friedrich Schlegel warf sich in den Schoß der katholischen Kirche, wie überhaupt zahlreiche Romantiker zum Katholizismus übertraten, so auch Clemens Brentano, der sich mystischen Erfahrungen zuwandte. Was das Romantische an Unmittelbarkeit und Direktheit gewann, verlor es an wissenschaftlicher Strenge und an sittlichem Ernst. Es scheint, dass das Verschweben im Unendlichen eine vorübergehende Potenz im Menschen bezeichnet, keinen Ort, an dem er Hütten bauen könnte.
 
Dr. Hans-Dieter Mutschler
 
 
Gamm, Gerhard: Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart 1997.
 
Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Positivismus, Linkshegelianismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus, Lebensphilosophie, herausgegeben von Ferdinand Fellmann. Reinbek 1996.
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 6: Deutscher Idealismus. Neudruck Stuttgart 1993—98.
 
Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800, herausgegeben vonChristoph Jamme und Gerhard Kurz. Stuttgart 1988.
 Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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